Admit it or die! – Wieso es der Branche schwerfällt, Fehler zuzugeben.

(K)Eine konstruktive Kritik!

[mikimaur] Ich bin ein untypischer Kommunikationsberater. Nicht weil ich Italiener bin und mir gemäss einigen Klischees Kommunikation in die Wiege gelegt wurde. Nein. Ich habe einen Background namens Naturwissenschaften. Wenn ich mich «oute», heisst es dann oft, «Ach, das hätte ich jetzt nicht gedacht.». Woher kommt dieses Klischee? Muss man, um in der Kommunikation zu arbeiten, ausser ein waschechter, charmanter, eloquenter (Liste nicht abschliessend) Italiener zu sein, entweder Kommunikationswissenschaften, PR, Journalismus etc. «studiert» haben? Gehört man somit nicht zur Gang? Warum ist das so? Dr. Maren Urner, promovierte Kognitions- und Neurowissenschaftlerin, erklärt es auf Perspective Daily, ihrem Online-Magazin, das nach den Prinzipien des konstruktiven Journalismus arbeitet, wie folgt (Kurzfassung):

  1. Wertigkeit: Die eigene Gruppe wird im Vergleich zu anderen Gruppen als höherwertig angesehen.
  2. Identifikation: Je stärker sich Teilnehmer mit der eigenen Gruppe identifizieren, desto stärker wird die eigene Gruppe bevorzugt.
  3. Verteidigung: Wenn Gruppenmitglieder das Gefühl haben, dass die Werte der eigenen Gruppe hinterfragt werden, betonen sie die Besonderheit der eigenen Gruppe und die Schwäche anderer.
  4. Schadenfreude: Scheitert eine andere Gruppe, kommt es zur Schadenfreude auf Gruppenebene. Die ist besonders stark, wenn es um einen Bereich geht, der relevant für die eigene Gruppe ist, und wenn unklar ist, ob die eigene Gruppe in dem Bereich überlegen ist.

Dabei sind weder Gruppe noch ihre Dynamik in Stein gemeißelt. Ist sie aber einmal gebildet, agiert sie meist nach oben genanntem Muster.

Ich kann daher nachvollziehen, weshalb sich eine verschworene Community gegen «Eindringlinge» wehrt. V.a. dann, wenn ich mit meinem Background per se nichts glaube, sondern wissen muss, ergo vieles hinterfrage.

Was habe ich mir nur eingebrockt?

Mag aber auch sein, dass ich wegen meiner Herkunft während meiner Kindheit oft Mühe hatte, den eigentlichen Sinn einer in Zürichdeutsch ausgesprochenen Botschaft zu erfassen. Meine erste Fremdsprache war Spanisch. Meine Eltern führten eine Pension für Saisonniers, mehrheitlich aus Italien und Spanien. Erst mit meiner Einschulung kamen das Hochdeutsche und auf dem Spielplatz entsprechende Schweizer Dialekte. Daher musste ich schnell lernen, die eine wichtige Frage, die vielleicht vielen Marketers missfällt, zu stellen: «Wie meinst du das?»

«Wie meinst du das?» oder «wie hast du das gemeint?» zwingt den Sender der Botschaft dazu, sich klarer auszudrücken, ohne Ironie, ohne versteckte Botschaften, nur mit Fakten. Darum kann ich keiner Politdebatte zuhören, so ganz nebenbei.

Meines Berufes wegen muss ich mich dennoch mit Meinungen auseinandersetzen, die die jeweilige Person oft als Fakt darstellt, sich aber ohne jeglichen wissenschaftlichen Beweis als haltlos herausstellt.

Ich hatte mich schon mal mit dem Begriff «virales Marketing» befasst. Zum Glück ist dieser Hype m.E. vorbei. Aber immer wieder tauchen neue «Marketingbegriffe» auf, für die es sich lohnt, die «wie meinst du das?»-Frage zu stellen.

Dass Werbung aber keine Wissenschaft ist, beweisen die vielen Akteure, die sich im Markt bewegen. Kommen dann «Quereinsteiger», die einen wissenschaftlichen Ansatz verfolgen, werden aus vermeintlichen Konkurrenten (Media-Agenturen, Verleger, Vermarkter etc.) sehr oft Verbündete. So zBsp. wenn ich Themen wie «Werbewirkung» oder «Digitalisierung» anspreche.

Die Kombination scheint besonders «gewisse Gemüter» zu irritieren: der Begriff «Digital Agentur» ist nicht geschützt, wonach sich jedes Büro, das etwas mit «Digital» zu tun hat, sich auch so nennen darf. Eine kurze Recherche auf local.ch ergab über 1800 Resultate zum Begriff «Werbung» und über 200 bei «Internet Werbung».

Aus einstigen Konkurrenten wird eine verschworene Gemeinschaft. Viel Potential für viele Feinde.

Gehen wir also auf die Kombination «Werbewirkung» und «Digital» ein. Als ich anno 1998 meine ersten Banner für ein bekanntes Wirtschaftsprüfungsunternehmen schalten durfte, wartete man ob des innovativen Mediums trotz 56kB/s gespannt auf die Resultate. Die blieben nicht aus. Die ersten Klicks wurden generiert. Wenige Jahre später, nun bei Realmedia, klingelten die Telefone heiß, und zwar von Unternehmen, die unbedingt auch diese «Banner im Internet» kaufen «und den mm-Preis wissen wollten»… Goldgräberstimmung. «Alles ist messbar. Super genau. Klicks lügen nicht.» Ich wollte es aber in gewohnter Manier besser wissen.

#DuSchonWieder

Ich wusste, ich machte mich mit meiner Fragerei nicht besonders beliebt. Kein Wunder. Share- und Stake-Holder mögen es nicht, wenn Dinge ins Rollen gebracht werden, die ihr Business-Modell stören könnten. Über Werbewirksamkeitsstudien kursierten schon damals viele Gerüchte. Angetrieben von den grossen U.S.—Tech- und Medienkonzernen. Yahoo, MSN, Altavista… und dann kam Google. «Die müssen es wissen. Die haben’s ja erfunden.»

Ist in etwa so, als würde Ihnen Ihr Arzt ein Medikament verkaufen, das er selbst entwickelt hat und dessen Wirksamkeit auch von ihm bestätigt wird. Das nennt sich Eigendeklaration und ist wie Homöopathie. Wirkt vielleicht auch nach demselben Prinzip. Ergo: ein überteuertes Placebo, verkauft von einem allwissenden Experten (Google, Facebook…), dem man nur glauben soll, damit sich die Prophezeiung erfüllt. Wenn so viele Kunden daran glauben, dann muss es ja gut sein. Tönt nach Religion. Zuweilen nach Dogma.

Dabei wäre es, sofern man es will, gar nicht schwierig, folgende Fragen zu stellen:

  1. Worin liegt der Nutzen?
  2. Welche Nachteile könnten sich ergeben?
  3. Was passiert, wenn wir abwarten und keine Kampagne lancieren?
  4. Welche empirischen Beweise liegen vor, die 1. und/oder 2. und/oder 3. untermauern?
  5. Würden Sie Ihr eigenes Geld genauso investieren?

Die Wissenschaft bringt es auf den Punkt: wir sind nur menschlich!

Der Glaube an Digitale Allerheilmittel ähnelt dem bekannten Milgram-Experiment. Das vom Psychologen Stanley Milgram entwickelte und 1961 durchgeführte Experiment sollte testen, wie Personen autoritäre («die Experten») Anweisungen befolgen, auch wenn die Handlung im Widerspruch mit ihrem Wissen und Gewissen steht. Es kommt zu folgendem Prozess:

  1. Denkreduzierung
  2. Denkbefreiung
  3. Verantwortungsverweigerung

Zurück also zu meinem Streben, faktenbasiert Kunden Empfehlungen zu liefern und, wenn keine Fakten vorlagen, ihnen klar und offen mitzuteilen, dass wir zusammen die Risiken einkalkulieren mussten, ehe sie sich für etwas entscheiden würden. Ein Verfahren, den «echte» Verkäufer meiden, wie der Teufel das Weihwasser. Profitmaximierung für die eigene Tasche war nie meine Stärke. Wie auch. Mein Vater schleppte mich, als ich 5 war, bereits an meine erste 1. Mai Demo. Meine Mitgliedschaft beim Partito Comunista Italiano, der nicht mehr existiert, war lange Zeit ein wohl gehütetes Geheimnis (Grund: s. Erklärung von Dr. Urner) und, will man meinen Professoren an der Uni oder später meinen diversen Vorgesetzten glauben, hätte ich antiautoritäres Verhalten in den Genen. Gut so!

Media-Audits. Inquisition 4.0!

Mittlerweile hegen einige Kunden doch den einen oder anderen Verdacht, ihre Investitionen würden nicht den gewünschten Erfolg bringen. Schlimmer noch: das Geld versickere auf dubiose Weise. Ich erhalte dann von ihnen «anonymisierte» Mediapläne mit der Bitte, ein Auge drauf zu werfen. Hat man unzählige Pläne verschiedener Agenturen begutachtet, so braucht’s die Anonymisierung nicht mehr. Man erkennt die Urheber ziemlich einfach. Manchmal sogar den oder die Planer*in, der/die den Plan zusammengestellt hat. Aber warum wollen Werbeauftraggeber immer öfters die (hoffentlich!) aus einer Media-Strategie abgeleiteten Pläne von einem externen Berater analysiert haben? Ist ihr Misstrauen so weit fortgeschritten? Das Problem ist m.E. vielschichtig.

  • Werbeauftraggeber haben die Mediakompetenz ausgelagert. Es fehlt nun intern an Know-how.
  • Agenturen, die vllt. noch nach einem %-Honorar-Modell arbeiten, kämpfen um Margen. Es werden Mitarbeiter rekrutiert und schnell zu Senior-Account-Blablabla befördert. Wer will schon von einem Junior betreut werden. Es fehlt unweigerlich an Know-how.
  • Der Shareholder-Value zwingt viele Agenturen dazu, die Rentabilität zu maximieren. Es werden «Services» und «Innovationen» verkauft, die man so sonst nirgends bekäme. Es werden Kanäle bevorzugt, die den besten ROI aufweisen. Für wen? Know-how wird weiterhin nicht aufgebaut.

And then came Google, Facebook & Co.!

Für viele Kunden, wie auch für Agenturen, die auf dem Kriegsfuss mit Media-Agenturen stehen, ein wahrer Segen. Die, die es erfunden haben (Ja, genau die! Aus den USA!), eilten wie die Kavallerie unter General Patton zur Hilfe, um die armen Kunden zu retten, die ihren ROI kennen, optimieren, maximieren wollten. Also, alle! «Let’s make Media great again! Digital is the answer.»

War ich der Einzige, der das Verhalten der nerdigen Cowboys und G.I.s aus Palo Alto, Menlo Park etc. etwas arrogant fand? Sogar misstraute? Typisch! … Partito Comunista Italiano… Einspruch angenommen! Lag ich aber wirklich falsch? Zumal GoFa zig Studien, Cases veröffentlichten, die den Nutzen ihrer Services bestätigte. Das musste auch den ärgsten Digital-Atheisten und -Skeptiker konvertieren. Denkste! Zum Glück! Mittlerweile mehren sich kritische, hinterfragende Stimmen. Und meines Wissens ist oder war keine dieser Personen aktives Mitglied einer kommunistischen Partei.

Die Branche hat es verpasst! Selbstregulierung funktioniert eben doch nicht!

Bob Hoffman (PS: «If you don’t know who Bob Hoffman is then you really don’t work in advertising. That, or you have not steeped yourself in the wisdom of this man.» MediaPost) beschreibt es in einem seiner letzten Beiträge. Die Branche steht knietief in der …

Wir alle kennen 3rd-party Prüfer wie Kantar, Nielsen, WEMF etc. Wir wollten ja bereits vor Jahrzehnten wissen, was, wo, wann, wie von wem gelesen, genutzt, gesehen, wahrgenommen etc. wird. Und sind wir ehrlich, oft haben wir diese Unternehmen sehr kritisch begutachtet, wollten ihren Zahlen nicht glauben. Leider wollen «Digital-Evangelisten» diesen Zahlen weiterhin nicht glauben. Und jetzt kommt’s dicke: (fast) alle lassen sich in die Karten blicken, empfangen Auditoren. Nicht nur, weil sie nichts zu verstecken haben. Nein. Auch ist sehr oft der Fall, dass sich Publisher auf Feedbacks der Auditoren freuen, weil Publisher nicht selten so das eigene Angebot verbessern können. Und wer macht nicht mit? Wer drückt sich davor, unabhängige Messungen zuzulassen? Genau!

Bob Hoffman schreibt dazu: « I’m sure no one will be surprised to learn that the two most prominent of these are Facebook and Google. Facebook’s metrics have become a laughingstock and the only people in the world dumb enough to believe them are marketers. »

Werbeauftraggeber haben aber wohl langsam erkannt, dass es so nicht weitergehen kann. P&G hat die Lehren aus dem Debakel gezogen und eine eigene First Party Database mit 1.5 Mia. Kundenprofilen aufgebaut. Goldwert!

Jetzt zwei Fragen, die sich jeder Fachexperte stellen müsste:

  • wieso lassen sich Facebook & Google nicht in die Karten schauen und
  • wieso lässt sie der Branchenverband (ANA, IAB usw.) sowie die Politik weiter gewähren?

Eben. Alle stehen knietief in der …

Daher sollten sich Auftraggeber mit folgenden (Konsumenten-)Fragen befassen, die die ethischen Fragen nicht ausschliessen (NB: Facebook kooperierte mit Breitbart! Kinderpornografie auf Youtube! …):

  1. Was soll ich beachten?
  2. Was ist für mich relevant?
  3. Wem soll ich glauben?
  4. Was habe ich nun davon?

Zu Punkt 4 ein Beispiel: es herrscht fast eine Uniformität des Angebotes und doch will man aus der Masse hervorstechen. Der Konsument entscheidet sich daher aus dem richtigen («mein Auto ist futsch») und aus dem echten Grund («die sind mir sympathisch»). Die Motivatoren der Zielgruppen sind vielfältig. Wer sie nicht kennt, der verpasst einiges.

Werbetreibende müssen m.E. zwischen Ereignis und Bedürfnis unterscheiden können. Nur weil es bei der Konkurrenz gewirkt hat, will nicht heissen, dass es auch bei ihnen wirkt. Oder? Wirkung muss man zudem messen können, um die Maßnahmen effektiv & effizient zu steuern. Aber als Profi wissen Sie das bestimmt. Falls nicht, einfach melden.